Erste Gedanken über eine mögliche Annexion des Donbas durch Russland. Inspiriert durch Margarita Simon'jan.
Margarita Simon’jan, Chefredakteurin der staatlichen internationalen Nachrichtenagentur Rossija Segodnja, forderte heute während des sogenannten Integrationsforums in Donezk die Annexion des Donbas durch Russland:
"Die Menschen im Donbas wollen in ihrer Heimat leben, wollen Teil ihres großen, großartigen, unseres großzügigen Vaterlandes sein. Und wir sind dazu verpflichtet, dies ihnen zu ermöglichen. Russland, Mutter, hole den Donbas nach Hause!"
Auf den ersten Blick wirkt das gesamte Forum nach einem ziemlich plumpen Versuch von ein paar Jungs aus Donezk aus, Geld im großen Stil zu waschen, innenpolitisch zu punkten und dabei einigen russischen Journalist:innen eine lukrative Verdienstmöglichkeit im Austausch für mediales und politisches Lobbying zu gewähren.
Schließlich ist die Annexion des Donbas in Form der beiden Volksrepubliken von Donezk und Luhansk für Moskau aus wirtschaftlicher und strategischer Sicht nach wie vor hochgradig riskant, wenig gewinnbringend, kostenintensiv und scheint letztlich ziemlich irrational zu sein.
Aber gerade die Frage nach der Rationalität hinter einer potentiellen Annexion des Donbas bleibt spannend. Denn auf den zweiten Blick trägt eine potentielle Annexion des Donbas den Kern des Rationalen sehr wohl in sich.
Russlands Führung gerät seit einigen Monaten immer stärker unter Druck und wirkt zunehmend unsicher. Wachsende innenpolitische Protestaktivitäten, schockierende Investigativberichte, möglicher Baustopp von Nord Stream 2 sowie eine drohende weitere Runde an Sanktionen stärken nicht gerade das Vertrauen in die Zukunft.
Der Administrationswechsel in Washington verspricht zwar eine größere Vorhersehbarkeit des US-amerikanischen Handelns, jedoch mit Sicherheit keine Verbesserung der bilateralen Beziehungen. Erschwerend kommt hinzu, dass sich die Lage in Belarus allmählich zu stabilisieren beginnt und das Verhältnis zu Lukaschenko in gewohnt konfrontative Bahnen zurückzukehren scheint.
Moskau hat jedenfalls im Hinblick auf das eigenen internationale Ansehen (zumindest im Verhältnis zum Westen) nicht mehr allzu viel zu verlieren. Wesentlich toxischer kann das internationale Umfeld ja kaum noch werden. Auch das Verhältnis zur Ukraine kann sich nicht mehr verschlechtern. Von einer nachhaltigen Verbesserung der Beziehung ist man unendlich weit entfernt. Zudem ist aus der Sicht des Kremls die Ukraine seit 2014 ohnehin für Jahrzehnte verloren.
Vor diesem Hintergrund verspricht die Annexion des Donbas durchaus innenpolitische Vorteile. Sollte es dem Kreml gelingen, die Donbasannexion innenpolitisch richtig zu vermarkten, wird der erneuerte patriotische Konsens (auch wenn dieser wahrscheinlich viel schwächer sein wird als 2014) der Partei der Macht "Einiges Russland" und den kremlnahen Kandidat:innen helfen, die Parlamentswahlen im Herbst ohne größere Zwischenfälle zu gewinnen.
Jedenfalls werden die aktuellen Proteste und Nawalnyjs Smart-Voting-Strategie dadurch erheblich geschwächt. Darüber hinaus wird ein souveräner Sieg bei den Parlamentswahlen wird die Eliten rund um Vladimir Putin konsolidieren und das gesamte Machtsystem stabilisieren.
Sollte Moskau tatsächlich eine Annexion des Donbas ernsthaft in Erwägung ziehen, so dürfte der Kreml dabei, zum ersten Mal seit 2014, die Karte des russischen Nationalismus spielen. Schließlich lief auch das Integrationsforum in Donezk unter dem Namen „Russkij Donbass“ [Russischer Donbas].
Derzeit sind die Diskussion über eine mögliche Annexion des Donbas freilich reine Spekulation. Doch kann es sich bei den Aussagen Simon’jans durchaus um einen Versuchsballon handeln. Denn immerhin ist Margarita Simon’jan ja keine ganz und gar unbedeutende Person.
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